Wie nachhaltig ist Recyclingpapier wirklich?

von | 2021, Februar | Nachhaltige Medien

Papierrecycling ist ein sinnvoller und effizienter Prozess: Die Autoren Axel Fischer (INGEDE) und Guido Rochus Schmidt (UmDEX) klären über eine jüngst erschienene Studie auf. Bild von Pexels auf Pixabay 
Das Recycling von Papier gilt im grafischen Gewerbe als wichtiger Bestandteil der Kreislaufwirtschaft, denn es setzt dort seit Jahrzehnten beispielhafte Maßstäbe bei der Klima- und Ressourcenschonung. Nun stellt eine Pressemitteilung der schwedischen Papiermühle Iggesund Paper Board die definitiven Umweltvorteile des Papierrecyclings in Frage und verunsichert gleichermaßen umweltbewusste Druckunternehmer, Medienproduktioner und Printbuyer.

Einer Pressemitteilung, die vor einigen Tagen versendet wurde, lag eine entsprechende Studie von Wissenschaftlern der Yale University und des University College London mit dem Titel Begrenzte Klimavorteile des weltweiten Recyclings von Zellstoff und Papier“ zugrunde, wonach die Produktion von Frischfaserpapier wesentlich klimafreundlicher sei, als die Produktion von Recyclingpapier. Diese Studie wurde im Oktober 2019 eingereicht und im Januar 2020 im Journal Nature Sustainability veröffentlicht.

Interessanterweise beauftragte der schwedische Holmen Konzern, zu dem auch Iggesund Paper Board gehört, schon im Mai 2019 beim IVL Swedish Environmental Research Institute ebenfalls eine Studie mit dem Titel „Umweltvorteile bei der Herstellung von Frischfaser-Papier“, die zu ähnlichen Aussagen kommt. Diese Studie wurde von Wissenschaftlern vielfach kritisiert, weil unter anderem weder Wasser und Abwasser noch der Chemikalienverbrauch bei der Frischfaserproduktion berücksichtigt wurden.

Auch wenn der zeitliche Zusammenhang der beiden Studien auffällig erscheint –  so gäbe es, laut dem Pressesprecher von Iggesund Papier Board, keine Verbindung mit der Yale-Studie. Man habe die Ergebnisse der amerikanisch/englischen Studie lediglich als „interessante Perspektive“ aufgegriffen, sei jedoch an ihrer Entstehung „nicht beteiligt und habe sie auch nicht finanziell unterstützt“.

Dennoch sind die Ergebnisse, sowohl der bezahlten schwedischen wie auch der amerikanisch/englischen Studie, wissenschaftlich zu Recht anzuzweifeln. Die Ergebnisse hängen in hohem Maß von lediglich angenommenen Randbedingungen und zudem nicht eindeutig definierten Forschungsansätzen ab.

Mängel der amerikanisch/englischen Studie

Die Forscher Stijn van Ewijk, Julia A Stegemann und Paul Ekins begründen den Ansatz ihrer Untersuchung damit, dass von einer Kreislaufwirtschaft grundsätzlich zu erwarten sei, die produktspezifischen Nachhaltigkeitsziele durch einen effizienten und zirkulären Einsatz von Materialien zu erreichen.

Die Forscher konzentrieren sich dabei auf den globalen Papierlebenszyklus, der 1,3 % der globalen Treibhausgasemissionen verursacht, und entwickeln dafür ein Modell zur Schätzung des Klimaschutzpotenzials dieses Zyklus. Modelliert werden Materialverbrauch, Energieverbrauch und Emissionen von 2012 bis 2050 für verschiedene Ebenen des Recyclings und der Abfallverwertung. Es werden Emissionspfade beschrieben, die mit dem Ziel der globalen Erwärmung von 2 ° C vereinbar sind, und deshalb eine starke Reduzierung der CO2-Emission bei der Strom- und Wärmeerzeugung erfordern, um dies zu erreichen.

Die Ausgangslage der Studie beruht dabei auf dem energetischen Vergleich des Papierrecyclingprozesses mit Prozessabläufen bei der Zellstoffproduktion für Frischfaserpapiere, wie sie Iggesund Paper Board beim Sulfatverfahren anwendet.

Die Herstellung von Zellstoff nach diesem Verfahren beinhaltet das Kochen des Holzmaterials, um Zellulosefasern freizusetzen, die etwa die Hälfte des Holzmaterials ausmachen. Der Rest besteht aus dem Bindemittel des Holzes, das hauptsächlich aus einer energiereichen Substanz namens Lignin besteht und die bei diesem Vorgang ausgewaschen wird. Die Energie im Lignin wird in einem Rückgewinnungskessel zurückgewonnen und sowohl in thermische als auch in elektrische Energie umgewandelt, die für den Herstellungsprozess benötigt werden und mit Hilfe dieses Verfahrens teilweise eine klimaneutrale Produktion frei von fossilen Energien ermöglichen.

Im Gegenschluss zu dem beschriebenen Sulfatverfahren verweist die Studie darauf, dass bei der Herstellung von Recyclingpapier daher deutlich mehr fossile Energie verwendet wird als bei der Produktion von Primärfaserpapier. Basis dieser Aussage ist der globale Energiemix, der beim Recycling zur Anwendung kommt. Dieser Energiemix setzt sich aus einem lediglich angenommenen Wert zugekaufter fossiler Kraftstoffe und Elektrizität zusammen. Wie hoch aber der Anteil des fossilen Energiemix bei der Frischfaserproduktion ist, wird in der Studie außer Acht gelassen.

Eine Studie des Heidelberger IFEU-Instituts kommt daher zu einer völlig anderen Bewertung als die amerikanisch/englische Studie

Der Energiebedarf der Zellstoffherstellung aus Holz ist generell deutlich höher als der zur Altpapieraufbereitung, ebenso der Treibhauseffekt – trotz eines erheblichen Einsatzes von Produktionsreststoffen (Ablauge, Rinde) bei der Energiegewinnung zur Frischfaserherstellung, wie sie von Iggesund Paper Board angewendet wird.

Die Produktion von Recyclingpapier schneidet bei den Indikatoren fossiler Ressourcenbedarf, Treibhauseffekt und Versauerung im Vergleich deutlich besser ab als die Frischfaserpapierherstellung

Zudem führen die erhöhten Sulfatgehalte der Ablauge bei der Energiegewinnung zur Frischfaserherstellung zusätzlich zu einem deutlichen Anstieg der Versauerung bei der Primärpapierherstellung.

Zu berücksichtigen sind auch die oft langen Transportwege für Primärfasern, vor allem südlicher Herkunft, die sich besonders stark auf den fossilen Ressourcenbedarf und den Treibhauseffekt auswirken.

Treibhauseffekt bei Primärfasern und Recyclingpapier, Quelle IFEU-Institut Studie 2006

Außerdem ist der Prozesswasserbedarf der Frischfaserherstellung deutlich höher und auf die großen Unterschiede bei der Zellstoff- und Recyclingpaper-Herstellung zurückzuführen. Das Kochen des Holzes zur Fasergewinnung ist ein wasserintensiveres Verfahren als das Recyclingverfahren.

Prozesswasserverbrauch Frischfaser und Recycling, Quelle IFEU-Institut Studie 2006

Die Mängel der schwedischen Studie des IVL Swedish Environmental Research Institute

In der Studie wurden der Herstellung des Recyclingpapiers zusätzlich 50 Prozent der Frischfaserpapierherstellung (also CO2-Emissionen etc.) mit aufgebürdet, das heißt: Es wurde eine sogenannte Allokation – also die Zuordnung beschränkter Ressourcen zu potenziellen Verwendern- durchgeführt. Erstens ist dieser Ansatz nicht nur unüblich und nach Auskunft der Forschungsgemeinschaft INGEDE stark verfälschend, und zweitens berücksichtigt er auch nicht, wie oft eine Faser tatsächlich wiederverwendet werden kann.

Die diesbezügliche Aussage der schwedischen Studie ist daher insofern falsch, als hier behauptet wird, dass Fasern nur 5 bis 7 Mal wiederverwendet werden können.

Eine Studie der TU Darmstadt (siehe INGEDE News Ende 2019) hat hierzu jedoch erneut bestätigt, dass selbst nach 20 Recyclingzyklen die allermeisten Fasern noch voll funktionstüchtig sind.

Bei gleicher Papierqualität ist die für die Frischfaserproduktion benötigte Energiemenge definitiv deutlich höher als für die Recyclingpapierproduktion.

Dennoch werden in der Studie geringere CO2-Emissionen ausgewiesen und mit einem üblichen globalen Strommix verglichen, der die Basis der Recyclingpapierproduktion darstellt. Regionale Unterschiede im Strommix werden dabei aber nicht berücksichtigt, ebenso wenig der Einfluss von erneuerbaren Energien beim Recyclingprozess.

Zudem wurde in der von Holmen bezahlten Studie des IVL Swedish Environmental Research Institute ein Magazinpapier der Holmen Group, basierend auf 100 Prozent thermomechanischem Holzstoff (TMP) und ein Magazinpapier eines deutschen Papierherstellers auf Basis von 100 Prozent Altpapier verglichen. Dabei wurden nicht die spezifischen Verbrauchswerte des deutschen Herstellers berücksichtig, sondern Biologische Arbeitsstoff Toleranzwerte (BATW) wie sie in den USA und auch Schweden für die Definition von Stoffgemischen zur Anwendung kommen. Letztere führen zu anderen Werten als die spezifischen Werte, die bei führenden deutschen Recyclingpapierherstellern vorliegen. Ein direkter Vergleich wird somit unmöglich.

In der Studie wurden weder Angaben zum Frischwasserverbrauch, zur Abwassermenge und Abwasserverschmutzung, noch zu Art und Menge der verwendeten Chemikalien gemacht.

Aus allen bisherigen seriösen Studien ist jedoch bekannt, dass gerade Papiere, die aus 100 Prozent Recyclingfasern bestehen, beim Wasser- und Chemikalienverbrauch besonders günstig abschneiden.

Letztendlich kommt die amerikanisch/englische Studie zu dem Schluss, dass ohne Änderungen am Energiemix, der für das Papierrecycling verwendet wird, die Emissionen fossiler Brennstoffe noch steigen werden. Ausgangspunkt für diese Aussage sind die Green House Gas- Emissionswerte für einen globalen Energiemix aus dem Jahr 2012. Nicht berücksichtigt wird dabei, wie und in welche Richtung sich dieser Energiemix in den 38 Jahren bis 2050 möglicherweise verändert. Somit bleibt die Aussage mehr oder weniger spekulativ.

Natürlich werden auch andere Wissenschaftlerinnen nicht bestreiten, dass Papierrecycling ebenfalls CO2 emittiert und daher messbare Auswirkungen auf das Klima hat. Und es besteht allgemeine Übereinstimmung, dass Energie aus nachwachsenden Quellen auch beim Recycling die bessere Alternative ist. Zudem kann auch nicht geleugnet werden, dass die Produktion von Frischfaser – gerade wenn sie aus FSC-zertifiziertem Holz gewonnen wird – einen wichtigen Bestandteil des Papierkreislaufs darstellt. Aber dennoch bleibt es unbestritten, dass trotz aller noch existierender Mängel, die heutige Form des Papierrecyclings ein wesentlich geringeres Maß an Umweltauswirkungen bedeutet, als die Herstellung von Frischfaserpapier.

Marketing statt Wissenschaft

Leider haben die beiden Studien, ungeachtet ihrer, aus Sicht von Experten, wissenschaftlichen Mängel und Ungenauigkeiten, in der Branche für erhebliche Irritationen und Aufregung gesorgt, gerade bei seriös nachhaltig produzierenden Druck- und Medienunternehmen. Und mehr noch bei jenen Druckunternehmen, die nach Blauer Engel DE UZ-195 zertifiziert sind, oder sich gerade zertifizieren lassen und damit eine wichtige Funktion beim Klimaschutz übernehmen.

Das jahrelange Engagement vieler zertifiziert nachhaltiger Druckereien, wie sie sich auf www. UmDEX. de zusammengefunden haben, wird durch diese beiden Studien in wesentlichen Bereichen in Frage gestellt. Vor allem ist die prozessorientierte CO2-Einsparung bei der Herstellung Blauer Engel Druckprodukte nicht Gegenstand der Studie.

Obwohl die Produktion solcher Druckerzeugnisse  faktisch einen wichtigen klimaneutralen Bestandteil des Papierlebenszyklus darstellt, den die amerikanisch/englichen Forscher als zentralen Ausgangspunkt ihrer Forschung bezeichnen, wird dies für den Zyklus von ihnen erstaunlicherweise weder berücksichtigt noch bewertet.

Geschuldet ist dies jedoch nicht wissenschaftlich eindeutigen Aussagen und Argumenten, die die amerikanisch/englische Studie kolportiert, sondern einer offensichtlichen Marketingkampagne, die nicht von ungefähr kommt.

Iggesund Paper Board, die schwedische Papierfabrik, die auch zum Holmen Konzern gehört, ist weltgrößter Produzent von Invercote Karton, der aus Frischfasern hergestellt ist. Sie hat mittels einer Pressemitteilung die Ergebnisse der im Herbst 2019 erschienenen amerikanisch/englischen Studie in der Fachwelt verbreitet.

Interessant dabei ist jedoch, dass die vom schwedischen Holmen Konzern beauftragte schwedische Studie vier Monate früher, nämlich im Mai 2019, fast identische Ergebnisse liefert. Auch sie basieren auf dem von Iggesund Paper Board angewendeten Sulfatverfahren zur Frischfaserproduktion, das laut Studie wesentlich klimafreundlicher sein soll als das Verfahren zur Recyclingpapierproduktion.

Es ist nichts Neues und auch nicht verboten, Pressetexte zu Marketingzwecken zu veröffentlichen, um auf diese Weise eigene Vorzüge in den Vordergrund zu stellen. Auch wenn damit eine seit Jahrzehnten effektiv funktionierende und klimaschonende Methodik der Kreislaufwirtschaft, wie sie das Papierrecycling darstellt, in Misskredit gebracht wird.

Postskriptum

Wie wenig glaubwürdig die Aussagen solcher Pressemitteilungen tatsächlich sind, wird nun durch die in Schweden, angesichts des klirrenden Winters, herrschende Stromknappheit deutlich. Papierfabriken des Holmen Konzerns beobachten aufgeregt den Anstieg des Preises von Strom aus dem Netz, – einer Energie, die sie ja laut Pressebericht von Iggesund Paper Board für die Herstellung von Frischfaserpapier gar nicht benötigen – um bei weiterer Verteuerung die Produktion entsprechend zurückzufahren. Ein Schelm, wer Böses über den Wahrheitsgehalt von Pressemitteilungen denkt.

Quellen:

Stijn van Ewijk, Julia A Stegemann und Paul Ekins: „Limited climate benefits of global recycling of pulp and paper“, Nature Sustainability 2020.

Studie des IVL Swedish Environmental Research Institute Holmen-LCA-report-summary.pdf


Hinweis: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche betreffende Bezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.
Guido Rochus Schmidt

Guido Rochus Schmidt

Autor, Umweltexperte, Fachtexter

Guido Rochus Schmidt war von 1979 bis 2013 Geschäftsführer der Ulenspiegel Druck GmbH, einer der bis heute nachhaltigsten Medien- und Druckdienstleister in Europa, bereits seit 1999 nach Verordnung der Europäischen Union mit EMAS zertifiziert. Als Umweltexperte betreute er von 1999 bis 2017 die ökologische Fortentwicklung des Unternehmens.

Seit 2017 berät der Experte Unternehmen bei allen Fragen der Nachhaltigen Medienproduktion.

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