Ich schreibe relativ regelmäßig und gelegentlich schon mal längere Texte. Halbwegs geübt im Schreiben, fällt mir manchmal die Schreibweise eines Wortes nicht ein, also eines von diesen Wörtern, die man schon tausendmal geschrieben hat. Blackout! Kennen Sie das? Was machen Sie dann?
Verfolgungswahn im Internet
Da es nicht relevant ist, erspare ich den Lesern schlicht ein Beispiel aus meiner Grammatiksuche bei Google. Wenn ich viel schreibe, ist das (oder „der“ oder vielleicht „die“?) Google oft eine schnelle Anlaufstelle für die Suche nach der richtigen Schreibweise. Banale Begriffe, bei denen ich manchmal auf dem Schlauch stehe. Dann fällt mir partout nicht mehr ein, wie dieses Wort, ähh, wie der Begriff geschrieben wird. So wie vielleicht bei diesem Wort „partout“, also selbst wenn die Schreibweise nicht besonders komplex ist. Gerade also Wörter, die mir schon bei der falschen Eingabe peinlich sind.
Gleichwohl in stets erfüllter Erwartung, dass Google mich korrigiert.
Was passiert da mit mir?
Begriffe, die schon bei der Eingabe peinlich sind? Vor wem, frage ich mich gerade? Da entwickelt sich ein Dialog zwischen mir und Google? Bei mir im Kopf … und bei Google wo auch immer. „Ist mir wurscht, was du glaubst, blöde Maschine“, denke ich so bei mir und fange an, die Kiste zu personalisieren, ihr eine bewusstseinsgesteuerte Identität zu geben. So als „spräche“ ich über meine Tastatur mit einem Über-Ich, nicht mit einem Apparat.
Das Über-Ich, so weiß psychologie24.com, ist: „Für die Psychoanalyse die dritte »Instanz« der Seele, die sich jedoch erst im Laufe des Lebens entwickelt. Es entsteht gegen Ende der frühkindlichen Sexualentwicklung, nach der phallischen Phase und im Zusammenhang mit der Ödipus-Situation. Um diese Zeit werden die Gebote und Beispiele der Eltern verinnerlicht (introjiziert) und wirken fortan als Gewissen, das die eigenen Handlungen auch dann überwacht, wenn niemand anders sie beobachten könnte. Insoweit vertritt das Über-Ich die Moral, wie sie schon die Eltern aus den Sitten ihres Volkes, ihrer Religion und ihrer Schicht übernommen hatten.“
Das trifft den Nagel auf den Kopf! So fühlt sich Googeln manchmal an, wenn mir eine Eingabe peinlich ist. Schnell wieder weg – vielleicht hat’s der Bot noch nicht gespeichert. Illusorisch, ich weiß.
Wer ist Google?
Aber mit wem spreche ich da eigentlich? Wer ist Google? Was ist es oder sie? Oder er? „Google ist einfach epic… Google braucht kein Artikel, um toll zu sein“, lese ich auf gutefrage.net. Oder noch besser: „Frag doch mal Google.“ Amüsant. Das Ding mit dem Überich bleibt. Am anderen Ende sitzt vielleicht ein echter Mensch, der sich meine Akte vor Augen führt und bei meinen Suchanfragen einen Lachkrampf bekommt? Ich fühle mich beobachtet – gepaart mit der Hoffnung, dass meine Daten ungesehen bleiben. Das mündet nicht direkt in Verfolgungswahn, aber ab und an?
Unterwäsche von Berufs wegen
Da suche ich neulich im Universum des Internets nach umweltfreundlichen Druckereien und lasse mich wie häufig von Neugier getrieben bzw. Lethargie gebremst, auf eine LOHAS-Seite ziehen. Menschen, die durch ihr bewusstes und faires Einkaufsverhalten, auch beim Print, unglaublich effektive Macht gegenüber der Industrie ausüben, ohne großartig zu verzichten. Zugunsten aller Menschen, die an dem Produkt mitgewirkt haben, aber das nur am Rande, da es wichtig ist.
Auf dieser Website sehe ich ein Banner auf dem im 600-Pixel-Skyscraperformat eine ziemlich attraktive Frau Unterwäsche am Leib darbot. Eben hergestellt aus fairen Materialien z. B. für den Textildruck – FAIRTRADE! Ein Banner, passend zum Thema.
Sehr schön, sehr schön. Nein, nicht wie Sie jetzt denken. Oder denken Sie doch, was Sie wollen.
Behavioral Targeting nervt
Sie werden mir aber vielleicht doch abnehmen, dass ich, natürlich aus rein beruflichen Gründen, zu recherchiere hatte, ob es neben dieser attraktiven Frau auf dem Skyscraper noch weitere FAIRTRADE-„Exponate“ zu besichtigen gab. „Exponate“ im Sinne der nachhaltigen und fairen Druckmaterialien, natürlich ohne jede Fixierung auf die Trägerinnen. Verstehen Sie?
Die im Internetmarketing erfahreneren Leser zucken vielleicht schon bei dem Begriff „Behavioral Targeting“ zusammen, in böser Vorahnung. Oder in bitterer Erinnerung an ein ähnlich traumatisches Ereignis wie meinem – nämlich:
Das war eine heiße Konferenz
Wenig später, mittlerweile sind zwei Kollegen im Raum, die ich zu einer kleinen Konferenz eingeladen hatte, nehme ich mir vor, einige Websites zu zeigen, um meine Vorstellungen für unser neues Projekt visuell zu unterstreichen.
Schon auf der ersten Seite eines von mir eigens gebookmarkten Blogs aus England, poppen drei Banner hintereinander auf. Tenor, mehr oder weniger: Damenunterwäsche. Aber nicht nur die fair gehandelten Exponate, nein! Gleich noch eine Schippe heißer:
Dargeboten war ein Fullsizebanner auf dem sich zwei Damen in Tangas geradezu rekelnd herzeigten sowie ein zusätzlich nach circa 20 Sekunden riesengroß aufpoppender Banner mit Reizunterschwäche aus Gummi. Na super. Hätte ich doch den AdBlocker eingeschaltet.
Mindestens bei den Gummi-Dessous kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass der Marketing-Apparat hier nicht richtig funktioniert hat, denn was bitteschön hat Pornounterwäsche mit meinem Klick auf ein grundseriöses Werbemittel zu tun? Hier habe ich den „Behavioral-Targeting-Programmierern“ definitiv einen Fehler nachgewiesen. Was mir das bringt? Sie glauben mir doch?
Wer den Schaden hat, … hat den Schaden
„Dachtest Du an eine schlüpfrige Striptease-Page, Jürgen?“, fragt der Redaktionsassistent und grinst dämlich, analog zum anderen Kollegen. „Nein, was soll die bescheuerte Frage? Natürlich nicht. Ich könnte es Euch ja erklären, aber egal. Wie ich sehe, habt Ihr Spaß.“
Ein kleines Alibi hat mir die Dame mit den fairen Outfits dann hoffentlich doch noch verschafft. Jedenfalls haben mir die Kollegen mit gerade eben noch unterdrückt grinsenden Mienen versichert, mir uneingeschränkt zu glauben. Genau: So wie Sie jetzt beim Lesen.
Traumatisch seit dem Weihnachtsmann
Google weiß jetzt wenigstens, dass ich Wörter wie „sugzessive“ – pardon: „sukzessive“ – manchmal nachschaue. Dort bin ich jetzt aber wahrscheinlich auch in der Schlübber-Akte, in der Rubrik „Netz-Voyeure“ zu finden. Ich meine, kennen Sie das? Dieses Gefühl, beobachtet zu werden und sich dann selber zu bewerten? Zuliebe dieses diffusen digitalen Über-Ichs?
Genau wie: „Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an, packe Deine Rute ein, […]?“ Ich möchte sagen, dass hat mich als Kind schon tangiert. Zwar habe ich mich darauf verlassen, dass mein Vater mich vor dem Typen schützen würde, aber unangenehm war auf jeden Fall der Umstand, dass der Weihnachtsmann „[…] alles sieht, auch wenn Du ihn nicht sehen kannst, Jürgen.“ Ein probates Druckmittel.
Wahrscheinlich ist der einzige Grund für diese Kolumne die Aufarbeitung eines Kindheitstraumas, welches sich für mich heute im Über-Google manifestiert. Und ich dachte schon vor Jahren, ich bin aus dem Alter raus. Von wegen! Wer weiß, wann Google mit der Rute kommt und wie subtil es sodann seine Schäfchen verprügelt? Das Prinzip hat Parallelen, aber das werde ich mit meinem Psychologen diskutieren.
Werde ich zur Web-Lusche?
Also benehmen? Nichts Böses schreiben, nicht auffallen? Schwingt dieses Big-Brother-Feeling beim Surfen mit, um diesem Über-Ich, dem Über-Google, gerecht zu werden? Werde ich deshalb jetzt zur Lusche, zum Opportunisten, der morgen nur noch Rindsrouladen, Plätzen und Kätzchen postet?
Der Chilling Effekt: DDR-Feeling im digitalen Zeitalter
Das ist gar nicht so weit hergeholt. Für dieses Verhalten, das ich auch bei Kollegen, Geschäftsleuten und allen beobachtet, die vielleicht ähnlich denken, (was sich darin manifestiert, möglichst unauffällig auffällig zu sein), gibt es sogar einen Begriff: Chilling-Effect. Der erinnert mit nur ein wenig Fantasie an das DDR-Klima, wo du nie wusstest, wer genau wen ausspioniert oder wann Dich jemand beobachtet. Wikipedia weiß: „Kritiker sehen im chilling effect weniger einen juristischen Idealfall, sondern vor allem die Möglichkeit einer Selbstbeschränkung (Selbstzensur, vorauseilender Gehorsam) vor allem von Online-Diensten …“.
Nichts gegen Rindsrouladen und Katzenbilder, denn eine Katze ist mir stets sehr nahe, aber weißt du was Google: Es ist mir wurscht, was du über mich denkst. Und merk dir: Manchmal kann ein Klick, natürlich nur aus rein beruflichen Gründen, durchaus gerechtfertigt sein, finden Sie nicht auch?