In jüngster Zeit finden wir häufiger Hinweise über die voraussichtliche Lesezeit bzw. die Lesedauer, direkt oberhalb redaktioneller Texte im Internet. Wir haben uns gefragt, wie das berechnet wird:

Grundsätzlich dürfte die Lesedauer bei Internetmedien etwa so berechnet werden:

Anzahl der Wörter eines gesamten Beitrages geteilt durch X = Lesedauer in Minuten.

Mit einem Gleichgewicht aus Ironie und Neugierde haben wir uns bei der Methode gefragt, wie Verlage wohl dieses „X“ bewerten, das für die Anzahl von Wörtern steht die ein Leser innerhalb einer Minute bewältigen kann – oder nach Ansicht der Redaktionen lesen können soll.

Nicht nur in Onlinemedien, sondern auch in gedruckten Magazinen, finden wir aktuell immer häufiger teils peinlich genaue Lesezeiten.

Wann machen geschätzte
Lesezeiten Sinn?

Einige Boardmagazine von Fluggesellschaften z. B. drucken neben dem Datum oder der Ausgabenummer neuerdings sogar auf dem Titel ab, wie viel Zeit in Minuten das Lesen des gesamten Magazins beansprucht: Nicht ungefähr, z. B. etwa eine Stunde oder 1,5. Exakt 44 Minuten oder 51 stehen da. Bleibt die Frage, ob wir uns dann auch noch die Bilder ansehen oder das Impressum sondieren dürfen. Und was ist mit Nachschlagen?

Geschätzte Lesezeiten spenden kaum Nutzen, wenn die publizierten Texte eines Journals im Regelfall kürzer als 600 bis 800 Wörter sind und weniger als drei bis vier Minuten Zeit beanspruchen. In solchen Fällen können Leser den Aufwand selber gut abschätzen.

Als Faustregel gilt, dass bei mehrheitlich publizierten Fachartikeln mit über 1.500 Wörtern, Angaben über die Lesezeiten tatsächlich sehr nützlich sind. Wir selber haben uns für diesen Service gegenüber unseren Lesern entschieden, um Ihnen lästiges Scrollen und schwierigeres Abschätzen zu ersparen. Wer gerade z. B. keine zehn Minuten Zeit für einen Fachartikel findet, jedoch interessiert ist, wird sich den Link speichern bzw. bookmarken.

Wir gehen bei unseren Lesern von gut 300 Wörtern in der Minute (WpM) aus.

Was das Lesetempo über Sie verrät

Wissenschaftlich ist das Thema der Lesegeschwindigkeit bereits vollständig erforscht. Zusammenfassend geht die Wissenschaft davon aus, dass

  • es Erwachsene, die seltener lesen und beispielsweise auch im Job keine umfangreichen Inhalte lesen müssen, auf circa 100 Wörter pro Minute schaffen,
  • weniger geübte Leser circa 150 Wörtern pro Minute lesen können,
  • es geübtere Durchschnittsleser auf 200 bis 300 Wörter pro Minute schaffen, jedenfalls bei normalen, nicht zu komplizierten Texten,
  • während gute Leser nach wissenschaftlichen Erkenntnissen circa 400 Wörter in der Minute lesen und verstehen und, dass
  • nur 1 Prozent der Bevölkerung beruflich viel lesen muss oder privat viel lesen möchte und bis zu 1.000 Wörter pro Minute lesen und verstehen kann.
  • Wissenschaftlich verifizierte Rekorde liegen sogar bei 3.000 bis 4.000 Wörtern in der Minute.

WELT-Leser:
150 bis 200 Wörter/Minute

Interessant, was ein auflagenstarkes Magazin wie WELT seinen Lesern zumutet. Wir haben uns drei Fachartikel angeschaut:

  • Der erste Artikel, in dem der amerikanische Präsident Donald Trump kräftig über die Presse schimpft, hat rund 300 Wörter. WELT-online denkt, dass seine Leser 2 Minuten brauchen, um den Text zu bewältigen. Gut 150 Wörter pro Minute.
  • Ein anderer redaktioneller Beitrag vom selben Onlinemagazin über die Geldflut der EZB hat einen Umfang von gut 800 Wörtern, für den 5 Minuten Lesedauer veranschlagt werden, demnach rund 160 Wörter pro Minute.
  • Bei einem dritten Redaktionsbeitrag über radikale Religionen im Russland des Wladimir Putin, zählen wir etwa 950 Wörter, für die der Verlag ebenfalls 5 Minuten veranschlagt – immerhin schon 190 Wörter, die den Lesern pro Minute zugetraut werden.

Demnach vermutet die WELT-Redaktion weniger geübte und geübte Durchschnittsleser unter ihren Usern.

Gedruckte Bücher
lesen sich schneller

Laut einer Studie von Jakob Nielsen lesen wir Texte in gedruckten Büchern schneller als bei elektronischen. Dies hat die Nielsen Normen Group in einer Untersuchung herausgefunden, in der die Lesezeiten vom Apple iPad der ersten Generation sowie vom Amazon Kindle 2 mit denen von Büchern verglichen wurden.

Speed Reading?

Im eiligen digitalen „to go“-Zeitalter von Speed-Dating, Speed-Factory und digitaler Flüchtigkeit, dürfen Seminar für schnelles Lesen natürlich nicht fehlen. Das macht angesichts der Tatsache, dass die Aufmerksamkeit von Internet-Usern unter die von Goldfischen sinkt, durchaus Sinn. Denn derzeit erleben wir besonders in digitalen Medien immer weniger Stimmen in Form neuer Inhalte, sondern zunehmend Echos in Gestalt kurzer Posts oder 140-Zeichen-Tweets mit Verweisen auf bereits verfasste Inhalte.

Verdoppelung des Lese-Tempos?
Wozu?

Zum Beispiel das Ritter-Speed-Reading-Seminar verspricht seinen Absolventen mehr als eine Verdoppelung der eigenen Lesegeschwindigkeit und verweist auf Konzerne wie Daimler, Siemens, ProSieben, Sat1 oder Ericsson. Solche Unternehmen buchen Seminare für ihre Führungskräfte. Das Ziel: Die eigenen Manager sollen schneller lesen, den Stuff besser aufnehmen und schließlich auch behalten können.

Wissen ist Macht. Das gilt. Fachwissen ist komplex. Lesenswerte Fachartikel erreichen nicht selten 4.000 oder auch viel mehr Wörter.

Wem Zeit oder die Lust fehlt, wenigstens einmal zehn, 20 oder 30 Minuten für Fachtexte zu investieren, muss sich wohl oder übel mit inhaltlichen Fragmenten und häufig auch Halbwissen zufriedengeben. Führungskräfte können sich das nicht leisten. Nicht nur im Studium, sondern auch während der Karriere ist das Sondieren von verschiedensten meist umfangreichen Texten (Verträge, Fachliteratur etc.) elementar wichtig für die laufende Fortbildung.

Trotz aller Digitalisierung lassen sich Fachinformationen nicht unendlich komprimieren.

Lesen wird dem Homo sapiens also nicht erspart bleiben. Der Fachartikel „to go“ ist trotz Digitalisierung Utopie. Mehr Effizienz beim Lesen lässt sich nur durch Übung hin zum schnelleren Lesen erreichen. Die Ergebnisse solcher Trainings bringen real ganz erhebliche Vorteile mit sich. Die Improved Reading GmbH & Co. KG hat berechnet, dass Führungskräfte, die zwei Stunden täglich lesen

12 volle Arbeitstage einsparen, wenn sie das eigene Lesetempo um nur 25 Prozent steigern.

Mit entsprechender Übung können die Lesegeschwindigkeiten demnach ohne allzu großen Aufwand sogar mehr als verdoppelt werden. Das bestätigen diverse Institute und gilt auch in wissenschaftlichen Tests als real erreichbares Ziel. Bei zwei Stunden durchschnittlicher täglicher Lesezeit können bei doppeltem Lesetempo bis zu 30 Arbeitstage oder viel mehr im Jahr eingespart werden, selbst, wenn nicht jeden Tag gleichmäßig viel gelesen wird.

Testen Sie Ihr Lesetempo

Ihre Lesegeschwindigkeit, Verständnisrate sowie die sogenannte Effective Reading Rate (ERR), können Sie direkt testen. Nach dem Test beantworten Sie zehn Fragen und am Ende erhalten Sie Ihre Bewertung. Der Test dauert, je nach Lesezeit, kaum mehr als maximal fünf Minuten.

So funktioniert Ihr Gehirn

Auf vorgenannter Seite fanden wir diesen Text:

„Gmäeß eneir Sutide eneir elgnihcesn Uvinisterät, ist es nchit witihcg in
wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wrot snid, das ezniige was
wcthiig ist, ist daß der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn
Pstoiion snid. Der Rset knan ein ttoaelr Bsinöldn sien, tedztorm knan man
ihn onhe Pemoblre lseen. Das ist so, wiel wir nciht jeedn Bstachuebn
enzelin leesn, snderon das Wrot als gseatems. Ehct ksras! Das ghet wicklirh.“

Schon dieser Satz verrät viel darüber, wie es für jeden möglich ist, sein eigenes Lesetempo deutlich zu erhöhen.